Werwölfe in Uniform

 

Von Bidder, Benjamin und Schepp, Matthias

Fünf Jahre nach dem Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja sind die mutmaßlichen Täter bekannt. Wer aber gab den Auftrag: Tschetschenenführer Kadyrow, der Kreml, der Exil-Oligarch Beresowski? Ein Kriminalbeamter mit Verbindungen zur Mafia spielt eine Schlüsselrolle.

Wer in Moskau preisgibt, in Ljuberzy geboren zu sein, erntet Misstrauen oder ein wissendes Lächeln. Die gesichtslose Trabantenstadt im Südosten hat einen Ruf wie Corleone auf Sizilien - den einer Hochburg der Mafia.

500 Kämpfer, berüchtigt für Raubüberfälle und Waffenhandel, kontrollierten in den neunziger Jahren Fabriken und Nachtclubs. Viele von ihnen waren Bodybuilder. In ihrem Schlachtlied priesen sie ihr Städtchen als "Zentrum der groben physischen Gewalt". Ein Foto ihres Führers Sergej Saizew, genannt "der Hase", hängt noch immer im Kraftsportclub Titan. Saizew kam 1993 bei einer Schießerei um.

In Ljuberzy wuchs zwischen Plattenbauten und einem Kosmonautendenkmal Dmitrij Pawljutschenkow auf, er wählte einen Beruf, der ganz danach aussah, als wollte Pawljutschenkow den kriminellen Ruf seines Geburtsortes abschütteln. Er wurde Polizeibeamter, brachte es bis zum Oberstleutnant und stieg zum Leiter einer geheimen Abteilung der Moskauer Innenbehörde auf.

Heute ist Pawljutschenkow, ein Mann mit Halbglatze und ruhiger Stimme, die Schlüsselfigur bei der Aufklärung des Mordes an der Reporterin Anna Politkowskaja. Er ist Kronzeuge und Mittäter zugleich. Pawljutschenkow steht im Zentrum eines Geflechts aus tschetschenischer Mafia, korrupten Polizisten und undurchsichtigen Geheimdienstintrigen.

Politkowskaja hatte die Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien dokumentiert und Wladimir Putin des "Staatsterrorismus" geziehen. Am 7. Oktober 2006 wurde sie vor dem Fahrstuhl in ihrem Wohnhaus erschossen.

Fünf Jahre danach sind die Namen der mutmaßlichen Täter bekannt. Ein Tschetschene, der die Todesschüsse abgegeben haben soll, wurde im Mai verhaftet, Pawljutschenkow im August. Nun besteht die Aussicht, dass Täter, Organisatoren und Mittelsmänner hinter Gitter kommen. Das ist nicht wenig für ein Land, in dem die meisten Morde an Journalisten und Bürgerrechtlern unaufgeklärt bleiben.

Verschwörungstheorien, wonach der Kreml oder ein zwielichtiger Exil-Oligarch hinter dem Mord stecken, konnten nicht substantiell untermauert werden. Stattdessen weisen die Spuren in die Kaukasusrepublik Tschetschenien, das Reich des Gewaltherrschers Ramsan Kadyrow.

Der feige Mord an der Journalistin hat das Augenmerk der Weltöffentlichkeit auf die dunklen Seiten der Putin-Herrschaft gelenkt: die Gängelung der Presse und die Verquickung von Rechtsschutzorganen und Organisierter Kriminalität.

Ausgerechnet der Kronzeuge Pawljutschenkow ist dafür ein Paradebeispiel. Die Mitarbeiter seiner Sondereinheit, sogenannte Spezsubjekti, fahren Autos, die kein Polizist jemals anhalten darf. Der Personalabteilung ist es untersagt, von ihnen Fotos und Unterlagen zu führen. Die Büros im Stadtzentrum haben keine Schilder, eines befindet sich gleich neben dem Moskauer Konservatorium.

Pawljutschenkows Truppe war damit beauftragt, Kriminelle und Verdächtige auf Schritt und Tritt zu beschatten. Tatsächlich nutzte der Gesetzeshüter die Ressourcen und das Know-how aber auch, um selbst Verbrechen zu begehen. Mal vermietete er seine Beamten an Ehemänner, die wissen wollten, was ihre Frauen so treiben, mal an Politiker und Geschäftsleute, die Konkurrenten ausspähen lassen wollten, mal an seine Freunde bei der Mafia. Für eine Stunde berechnete er 100 Dollar.

Zu den Dienstleistungen der Bande gehörten offenbar auch Auftragsmorde. Zum Beispiel im Fall Politkowskaja. Um im Vorfeld des Mordes die Gewohnheiten der Reporterin auszuspionieren, stellte Pawljutschenkow nach den Erkenntnissen der Ermittler mindestens einen seiner Beamten zur Beschattung ab. Er rekrutierte drei Tschetschenen, darunter den mutmaßlichen Todesschützen. Pawljutschenkow soll auch die Tatwaffe besorgt haben, eine Gaspistole der Marke Isch, die in einer Untergrundwerkstatt in einem verlassenen Eisenbahndepot am Rande von Moskau auf scharfe Munition umgerüstet worden war.

Recherchen im Umfeld der Ermittler, bei Anwälten und Journalistenkollegen von Politkowskaja offenbaren ein Motiv für Pawljutschenkows Verbrechen. Der Oberstleutnant war spielsüchtig - und deshalb ständig in Geldnot.

Pawljutschenkow stammt zwar aus gutem Hause, ein Onkel zählt zu Russlands besten Neurochirurgen. Schnell aber geriet er auf die schiefe Bahn und verfiel dem Glücksspiel. Seine erste Ehe scheiterte. Die gegenwärtige Lebensgefährtin arbeitete beim Inlandsgeheimdienst FSB. Sie gehörte zur Abteilung des Oberstleutnants Pawel Rjagusow, einer anderen Schlüsselfigur beim Politkowskaja-Mord.

Im Dezember 2006 wurde Pawljutschenkows Partnerin bei einer Schlägerei in der Wohnung des Paares in Ljuberzy schwer verletzt. Über die Umstände kursieren zwei Versionen: Es soll zum Streit gekommen sein, als sich das Paar einen Callboy für Sexspiele eingeladen habe, erzählen die einen. Andere kolportieren, der Angreifer habe bei Pawljutschenkow, der oft Aufträge annahm, ohne sie auszuführen, Schulden eintreiben wollen.

Der Beamte brauchte ständig mehr Geld, als er mit der Gehaltsabrechnung bekam. Deshalb luchste er Rentnern und Alkoholikern Wohnungen für wenig Geld ab, um sie dann teuer zu verkaufen. Er war ein "Werwolf in Uniform", wie Russen die Blutsauger im Staatsdienst nennen. Vor zwei Jahren verurteilten Richter einen Pawljutschenkow-Mitarbeiter in Ljuberzy zu einer langjährigen Haftstrafe. Der Polizist hatte einen Geschäftsmann erschlagen und die Leiche verbrannt. Auch Pawljutschenkow geriet ins Visier der Ermittler, wurde dann aber nur als Zeuge verhört.

So war es häufig. Als im März 2006 der Wagen des Geschäftsmanns Gennadi Korban unter Beschuss geriet, verdächtigten die Behörden Pawljutschenkow als Drahtzieher. Der Kriminalbeamte verließ das Gericht dennoch als freier Mann. Er hatte gegen seine Komplizen ausgesagt und war so vom Verdächtigen zum Zeugen geworden.

Als sich Indizien mehrten, dass Pawljutschenkow, zunächst Zeuge im Verfahren um den Mord an Politkowskaja, selbst zu den Tätern gehört, wurde er am 23. August verhaftet. Auch diesmal gelang es ihm offenbar, einen Deal mit der Staatsanwaltschaft zu schließen. Er hofft, eine Haftstrafe von acht Jahren statt lebenslänglich zu bekommen. Die Staatsanwälte haben ihm bereits ein Sonderverfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit versprochen. Statt als Organisator des Mordes gilt er plötzlich nur noch als Mittäter.

Das nährte Spekulationen über mächtige Freunde im Hintergrund oder eine Doppeltätigkeit als Kriminalbeamter und Geheimdienstagent. Pawljutschenkow ist der einzige Angeklagte, der redet. Weil er um jeden Preis ein geringes Strafmaß erreichen will, fürchtet die Anwältin der Politkowskaja-Kinder Ilja, 33, und Wera, 31, der Offizier könnte zum allzu willfährigen Instrument der obrigkeitshörigen Justiz werden.

Schon behautet die angesehene Moskauer Tageszeitung "Kommersant", Pawljutschenkow habe den im Londoner Exil lebenden Oligarchen Boris Beresowski, einen Erzfeind Putins, als Auftraggeber des Mordes belastet. Politkowskaja wurde an Putins 54. Geburtstag ermordet. In Russland, das zu Mythenbildung neigt, wollen viele darin ein Zeichen sehen, dass Beresowski die Reporterin ermorden ließ, um Putin im In- und Ausland zu diskreditieren. Beresowski streitet dies ab.

Auch die bisher bekannten Fakten deuten eher auf eine innerrussische Spur. 1500 Kilometer südlich von Moskau verweben sich die Schicksale von vier Tschetschenen, die verdächtigt werden, mit dem Mord an Politkowskaja zu tun zu haben.

Atschchoi-Martan, ein tristes Nest von 20 000 Einwohnern, liegt am Fuße des Großen Kaukasus. Tschetscheniens Flachland steigt hier sanft zu den kaum zu kontrollierenden Bergen an. Untergrundkämpfer streiften hier im ersten Tschetschenienkrieg durch die Wälder. Bamut, damals eine Hochburg der nach Unabhängigkeit strebenden Rebellen, liegt gerade acht Kilometer entfernt.

Aus Atschchoi-Martan stammen die drei Machmudow-Brüder: Rustam, der mutmaßliche Todesschütze, sowie Dschabrail und Ibrahim, die Schmiere gestanden haben sollen. Das Auto der Brüder wurde am Tag des Mordes nahe Politkowskajas Wohnung von der Überwachungskamera einer Bank aufgenommen, ein grüner Lada mit kaputtem Scheibenwischer. Am 31. Mai dieses Jahres wurde Rustam Machmudow im Haus seiner Eltern, einem schmucken Bau aus roten Klinkern, in Atschchoi-Martan festgenommen. Sein Bruder Dschabrail beteuert: "Wir alle sind unschuldig. Geheimdienste haben Politkowskaja auf dem Gewissen."

Auch Rustams Onkel Lom-Ali Gaitukajew wuchs in Atschchoi-Martan auf, ehe er in der sogenannten "Lasagne Mafia" Karriere machte, benannt nach einem Restaurant in Moskaus Altstadt. In der Hauptstadt verübte die Bande Anfang der neunziger Jahre Bombenanschläge und ermordete Dutzende Menschen. Dabei halfen ehemalige und aktive Agenten des Inlandsgeheimdienstes.

Gaitukajew, ebenfalls ein V-Mann des FSB, brüstet sich damit, den Moskauer Staatsschützern bei der Liquidierung des tschetschenischen Terroristen Schamil Bassajew geholfen zu haben. Er sitzt wegen des Anschlags auf den Geschäftsmann Korban im Jahr 2006 in Haft, bei dem auch der spätere Kronzeuge Pawljutschenkow eine dubiose Rolle spielte. Aus dem Gefängnis heraus - so zitiert eine russische Zeitung aus Ermittlungsakten - beauftragte er Pawljutschenkow, die Sache Politkowskaja bis "zum 7. Oktober, besser noch genau am Siebten", dem Geburtstag Putins, zu erledigen.

Fluglisten zeigen, dass Gaitukajew mit dem Moskauer FSB-Offizier Pawel Rjagusow nach Tschetschenien flog. Auch mit dem mutmaßlichen Todesschützen Rustam Machmudow war Rjagusow unterwegs. Rjagusow, Pawljutschenkow und ein Ex-Polizist trafen sich oft in Restaurants unweit des FSB-Hauptquartiers Lubjanka, besonders gern im Schesch-Besch und im Kellercafé des Hotels Swertschkow. Von dort sind es nur 300 Meter bis zur "Nowaja gaseta", wo Politkowskaja arbeitete.

Oberstleutnant Rjagusow hatte nach seiner Festnahme im August 2007 eingeräumt, er habe über einen Mittelsmann für Pawljutschenkow die Privatadresse der Journalistin in einer Geheimdienstdatenbank herausgesucht. Später widerrief er seine Aussage. Er wurde auf freien Fuß gesetzt und steht weiter auf der Gehaltsliste des FSB.

Die Verflechtung von Mafia und Rechtsschutzorganen hätte in Ländern mit unabhängiger Justiz und lebendiger Demokratie zu parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, öffentlichen Protesten und Ministerrücktritten geführt. In Russland aber schweigen inzwischen selbst viele investigative Journalisten und die meisten Oppositionspolitiker aus Angst zum Mord an Politkowskaja.

Dank der Recherchen der "Nowaja gaseta" wird der Fall nun in einem zweiten Gerichtsverfahren neu aufgerollt. Klar ist, dass hinter dem Mord kein Einzeltäter stecken kann. Dazu wurde er zu aufwendig und professionell vorbereitet. Unklar ist, wer eigentlich wen angeheuert hat: russische Geheimdienstler die tschetschenische Mafia oder die Mafia die Geheimdienstler? Auch der eigentliche Auftraggeber bleibt im Dunkeln.

Die tschetschenische Spur verliert sich in Atschchoi-Martan. Ein Plakat huldigt dort dem Gewaltherrscher Kadyrow. Politkowskaja hatte ihn der Folter und des Mordes beschuldigt. 2006 nannte sie ihn einen "bis an die Zähne bewaffneten Feigling".

Welche Verbindung zwischen dem Umfeld Kadyrows und der Mafiagruppe in Atschchoi-Martan besteht, die mit Oberstleutnant Pawljutschenkow den Mord vorbereitete, mag niemand so recht recherchieren. Selbst die "Nowaja gaseta" schickt ihre Kaukasus-Experten dazu nicht mehr nach Tschetschenien. "Seit meine Mutter tot ist", sagt Politkowskajas Sohn Ilja, "ist Tschetschenien ein weißer Fleck. Niemand wagt mehr, von dort zu berichten."